Die Expositionsmaßnahme nach Verbier

von Julia Weber

Der Kölner Psychotherapeut Dr. Hanno Verbier stellt in einem Videotagebuch seine revolutionäre Therapieform der Expositionsmaßnahme nach Verbier vor, bei der es basierend auf der Konfrontationstherapie darum geht, psychische Probleme und Neurosen zu behandeln, indem diese aufgezeichnet und mithilfe des Internets einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Im Mittelpunkt der Behandlung steht Gert Sacher, der „Patient Null“, der sich im Zuge der verschiedenen Sitzungen immer wieder seinen vermeintlichen Ängsten stellt.




Abbildungen: Screenshots aus Die Expositionsmaßnahme nach Verbier


Produktion

Bei der Webserie handelt es sich um eine von der Film- und Medienstiftung geförderte professionelle Webproduktion. Bemerkenswert ist vor allem die hochkarätige Besetzung der Figuren. So wird der Protagonist Dr. Verbier von Hanns Zischler verkörpert, der aus Filmen von Wim Wenders, Peter Handke oder Peter Lilienthal bekannt ist und ebenso in internationalen Produktionen von Claude Chabrol oder Steven Spielberg mitwirkte. Für seine Tätigkeit als Schauspieler und Hörbuchsprecher wurde Zischler mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und 2011 mit dem Bundesverdienstkreuz bedacht. In Nebenrollen sind außerdem die ebenfalls vielfach ausgezeichneten und aus Film, Fernsehen und Theater bekannten Schauspieler Lina Beckmann, Charly Hübner und Margot Bendokat zu sehen.

 

Kontext und Medienumgebung

Eine große Rolle bei der Vermarktung der Webserie spielt ihre Einbettung in die Medienumgebung des Internets. So verfügt der Protagonist Dr. Hanno Verbier sowohl über einen professionell gestalteten Onlineauftritt, der zunächst den Eindruck erweckt, tatsächlich einen Psychotherapeuten im Internet zu repräsentieren. Es sind Sprechzeiten und Kontaktdaten des Psychologen zu finden, das Behandlungszimmer wird vorgestellt und mit Fotos dokumentiert. Außerdem wird die Therapiemethode näher erläutert und die Sitzungsaufzeichnungen können eingesehen werden. Einzig im Impressum der Homepage findet sich mit dem Verweis auf die Produktionsfirma ein Indiz dafür, dass es sich hier um eine Kunstfigur handelt, die Teil eines narrativen Medienproduktes ist. Neben der Website verfügt Hanno Verbier über ein noch immer regelmäßig bestücktes Facebook-Profil, auf dem im Veröffentlichungzeitraum der Webserie die Episoden publiziert wurden. Auch im Social Web tritt der vermeintliche Psychotherapeut als reale Person auf und steht mit den Rezipienten in einem regen Austausch. Die Webpräsenz spielt vor allem im Zusammenhang mit der pseudoauthentischen Inszenierung der Serie eine Rolle, da sowohl die Homepage als auch das Facebook-Profil zunächst den Eindruck erwecken, dass es sich bei Dr. Verbier tatsächlich um einen real praktizierenden Psychotherapeuten handelt.

 

Genre und Ästhetik

Bei Die Expositionsmaßnahme nach Verbier handelt es sich um eine pseudoauthentische Webserie, die im Stil eines realen Videotagebuchs inszeniert ist. Erst bei genauerer Betrachtung lassen sich die kurzen Youtube-Clips als fiktionales Produkt enttarnen. Diese Inszenierung hat vor allem die Funktion, die öffentliche Zurschaustellung und Selbstdarstellung von Privatpersonen im Internet auf komödiantische Weise kritisch zu reflektieren.
Die Ästhetik der Webserie ist geprägt von ihrer Pseudoauthentizität. Mithilfe verschiedener Authentifizierungsstrategien wird eine vermeintliche Unprofessionalität inszeniert, um dem Zuschauer von der Echtheit des Videomaterials zu überzeugen. Es dominiert eine wackelige Handkamera, die das Geschehen größtenteils aus der Sicht Hanno Verbiers zeigt. Dilettantische Zooms, Schwenks und eine unruhige Kameraführung erwecken den Eindruck vermeintlicher Authentizität. Vergleichbares gilt auch für die amateurhaft wirkende Montage, die ebenfalls kaum (offensichtliche) Spuren einer Nachbearbeitung aufweist. Am Ende jedes Clips wird zudem eine Schrifttafel eingeblendet, die potentielle Patienten über die Modalitäten der Terminvergabe in Verbiers Praxis aufklärt. Sowohl das Aufzeichnen des Videomaterials, die Nachbearbeitung als auch der Prozess des Hochladens werden somit handlungslogisch dem Akteur Dr. Verbier zugeschrieben und durch die Einbettung in die real existierende Website legitimiert. All diese Authentifizierungs-Merkmale vermitteln zusammengenommen zunächst tatsächlich den Eindruck von einem außermedial real-existenten praktizierenden Therapeuten.

 

Dramaturgie und narrative Struktur

Auch die narrative Inszenierung der Webserie unterstützt zunächst diese Hypothese: Die Existenz und die Verwendung einer Videokamera werden im Laufe der Folgen immer wieder werkintern thematisiert und mithilfe verschiedener Beglaubigungsstrategien handlungslogisch begründet. So wird die die Kamera regelmäßig in Gesprächen erwähnt (vgl. z. B. Folge Nr. 5) und von Figur zu Figur weitergereicht (vgl. z. B. Folge Nr. 8). Stets ist ersichtlich, welche Figur zu welchem Zeitpunkt für die Kameraaufzeichnung verantwortlich ist. In Ausnahmefällen wird die Kamera an einem festen Ort positioniert, um sämtliche handelnde Figuren zu zeigen (vgl. z.B. Folge Nr. 3). Auch der eigentliche Prozess des Aufzeichnens ist zu sehen, etwa wenn der Patient Gert Sacher die Kamera in Episode Nr. 8 direkt in den Spiegel des Fahrstuhls richtet.
Ein weiteres Merkmal der Pseudoauthentizität, an dem sich die Webserie bedient, ist das direkte Sprechen in die Kamera (vgl. Kuhn 2012, S. 61). In bestimmten Situationen wendet sich Dr. Verbier direkt an den Zuschauer, um beispielsweise seine Behandlungsmethode zu erläutern. Hierfür wird die Kamera an einem statischen Ort platziert und dadurch eine „offene, die Grenzen des Clips 'überbrückende' metaleptische Kommunikationskonstellation generiert, die auf den externen Kontext“ (Kuhn 2012, S. 61) der Internetcommunity verweist.
Dass es sich bei Die Expositionsmaßnahme nach Verbier nicht um das reale Videotagebuch eines Psychotherapeuten handelt, sondern vielmehr um ein fiktionales und inszeniertes Produkt, wird erst nach und nach durch das behutsame Einstreuen komischer Elemente offengelegt. Die Komik entsteht vor allem durch den Kontrast der vermeintlichen Ernsthaftigkeit der Inhalte und dem eher subtil stattfindenden Klamauk. Anfangs wirkt Dr. Verbier durch sein seriöses Auftreten durchaus glaubwürdig. Erst bei genauerer Betrachtung wird deutlich, dass es sich bei seinen eloquenten psychologischen Ausführungen um leere Phrasen handelt: In Folge 4 diagnostiziert Dr. Verbier beispielsweise bei Gerd Sacher vollkommen willkürlich Höhenangst und verordnet seinem Patienten deswegen einen Aufstieg auf den Kölner Dom. Die fachliche Inkompetenz des Psychologen wird zunächst dadurch aufgedeckt, dass Gert vollkommen entspannt die Treppen zum Aussichtspunkt hinaufsteigt und vielmehr Dr. Verbier derjenige ist, der mit Höhenangst zu kämpfen hat. Am Aussichtspunkt angekommen, wird Verbier schließlich ein zweites Mal als Hochstapler entlarvt, als er Gert Sachers Einwände, nicht an Höhenangst sondern an Höhlenangst zu leiden, als absurd abtut. Erst als sich ein Psychologe einmischt, der das Gespräch zufällig mitgehört hat, und das Konzept der Höhlenangst als eine der elementaren Ängste des Menschen beschreibt, weicht Verbier von seinem Standpunkt ab.
Die Webserie spielt mit erzählerischen Konventionen populärer Medienprodukte auf der einen und der vermeintlichen Authentizität auf der anderen Seite. So wird z. B. der Prozess des Aufzeichnens des vermeintlich realen Lebens nicht selten auf die Spitze getrieben. In Folge Nr. 9 wird beispielsweise über 40 Minuten lang Gert Sacher in einer statischen Einstellung gezeigt, während er auf dem Behandlungsstuhl in Dr. Verbiers Praxis sitzt und sich seine eigene Traumwelt zurecht fantasiert. Verbier hat den Raum schon längst verlassen. Hin und wieder spricht Sacher über das, was er gerade erlebt, singt oder hustet. Minutenlang passiert gar nichts und der Patient döst vor sich hin. Narratologische Konventionen wie der Aufbau eines Spannungsbogens und einer möglichst dichten Erzählökonomie werden hier vollkommen missachtet. Frei nach dem Motto „Wenn im realen Leben nichts passiert, ist das nun einmal so“ wird die Handlung nicht durch Ellipsen oder Zeitraffer dramatisiert. Der Aufbau der Episode spielt mit der Geduld der Rezipienten und regt diese an, die Relevanz privater Inhalte, die im Internet öffentlich zur Schau gestellt werden, kritisch zu reflektieren. Die Webserie ist eine intelligent gemachte Satire, die vor allem die öffentliche Zurschaustellung der privaten Probleme im Netz karikiert und „den zeitgenössischen Pathologisierungs- und Therapierungswahn [der Bevölkerung] auf die Schippe“ nimmt (blog.zeit.de).

 

Angaben

Staffeln: 1
Episoden: 18 Therapiesitzungen, 7 Weintipps, 5 Bonusfolgen
Episodenlänge: 2-8 min. (Ausnahme: Folge 9, 46:37 min.) [Ø 3:89 min]
Erscheinungsrhythmus: wöchentlich
Zuerst gezeigt auf: Youtube-Kanal
Produktion: JJST.DE
Jahr: 2011
Genre: Comedy/Satire

Abrufbar unter:

www.drverbier.de
www.youtube.com/user/HannoVerbier
(Zugriff: 26.08.2020)

Sonstige Quellen:

Kuhn, Markus (2012): Zwischen Kunst, Kommerz und Lokalkolorit: Der Einfluss der Medienumgebung auf die narrative Struktur von Webserien und Ansätze zu einer Klassifizierung. In: Nünning, Ansgar/Rupp, Jan/Hagelmoser, Rebecca/Meyer, Jonas Ivo (Hgg.): Narrative Genres im Internet. Theoretische Bezugsrahmen, Mediengattungstypologie und Funktionen. Trier: WVT, S. 51-92.
Netzfilmblog. Ihre Neurosen sind der Star (Zeit.de)
(Zugriff: 26.08.2020)

(Julia Weber, 02.06.2015)